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Deutscher Waldensertag & Dorffest 2017

Vertreibung, Flucht und Neubeginn

Der Deutsche Waldensertag 2017 in Rohrbach bot viel Historisches – vom Festumzug bis zum Szenischen Spiel, widmete sich aber auch hochaktuellen Themen wie dem Hilfsprojekt „Mediterranean Hope“ für Flüchtlinge in Italien. 

OBER-RAMSTADT/ROHRBACH. Viele Männer und Frauen trugen einfache weiße Leinenhemden, schulterten Heugabeln und Sensen oder zogen Holzkarren hinter sich her, in denen strohgefüllte Jutesäcke lagen oder kleine Kinder saßen. Beim historischen Festumzug am Deutschen Waldensertag 2017 in Rohrbach erinnerten diese Dorfbewohner an die Ankunft der Glaubensflüchtlinge vor mehr als 300 Jahren im Odenwald. Einige Frauen und Mädchen zeigten sich in ihrer ortstypischen blau-rot-weißen Tracht, auswärtige Gruppen trugen andersfarbige historische Kleidung. Denn aus unterschiedlichen Städten und Dörfern, die überwiegend zu Hessen, Württemberg  oder Baden gehören, waren die Nachfahren der Waldenser an diesem warmen Sommersonntag nach Rohrbach gekommen, um sich zu treffen, Vorträge zu hören und Gottesdienst zu feiern. Herbert Temme, Vorsitzender der Deutschen Waldenservereinigung e.V., freute sich viele Teilnehmenden aus unterschiedlichen Regionen begrüßen zu können und dankte der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde Waldenser-Kolonie Rohrbach-Wembach-Hahn, die nach 1987 und 2006 wieder als Gastgeber fungierte. 

 

Vertreibung, Flucht und Neubeginn waren Themen, die in den Vorträgen, Grußworten und dem Gottesdienst eine zentrale Rolle spielten. „Unsere Vorfahren kannten verschiedene ‚Monster‘: Ignoranz, Intoleranz, Machtbesessenheit, Armut, Krieg und Ausweisung. Sie wussten aber, „wir können uns ganz auf diesen Gott verlassen“, sagte Elisabeth Löh Manna in der Predigt. Menschen würden heute aus den gleichen Gründen flüchten, hinzugekommen seien noch die Klimakatastrophe und die ungleiche Verteilung der Ressourcen. „Sie hoffen, ein besseres Leben zu finden und sie begegnen unserer Angst – ein weiteres ‚Monster‘ Europas“, so die Pfarrerin aus Pomaretto, einer Stadt in den Waldensertälern im Piemont. Ulrike Scherf, die Stellvertretende Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) würdigte die Waldenser als älteste evangelische Gemeinschaft. Diese habe von Anfang an – seit dem 12. Jahrhundert - die Übersetzung der Bibel in die Landessprache betrieben, die freie Predigt gefordert sowie praktiziert und auch Frauen in den Predigtdienst einbezogen. Zentrale evangelische Einsichten seien hier bereits Jahrhunderte vor Martin Luther verkündet und gelebt worden. „Als reformatorische Diasporagemeinden haben die Waldenser früh die Erfahrung von Verfolgung, Vertreibung und Flucht machen müssen, aber auch von Asyl, Ansiedlung und Neuanfang“, sagte Scherf. 

Für Dekan Arno Allmann waren das, was die Waldenser zum Auszug aus den kottischen Alpen trieb, zutiefst evangelische Anliegen. Heute könnten die reformierten Gemeinden vieles zum Reformprozess in der evangelischen Kirche beitragen. „Waldensertum ist viel mehr als Folklore, denn es gibt Impulse auch zu aktuellen Fragen: Wie können Christen als Minderheit leben? Wie können wir Menschen integrieren?“, betonte Allmann.

 

Hoffnung für das Mittelmeer

„Diejenigen, die in Europa ankommen, sind die Glücklichen – sie haben überlebt. 35.000 sind in den letzten 15 Jahren im Mittelmeer gestorben, mehr als 5000 allein 2016“, sagte Marta Bernardini. Die Kulturanthropologin berichtete in ihrem Vortrag ‚Mediterranean Hope (MH)– Hoffnung für das Mittelmeer“ über die gefahrvollen Wege der Flüchtenden. Es drohten in einigen afrikanischen Ländern Raub, Ausbeutung, Vergewaltigung und Sklavenarbeit. Sie nannte Libyen einen „chaotischen Staat und einen der gefährlichsten Orte der Welt“, in dem Schlepper Fluchtwege leichter organisieren können als an anderen Küstenanrainerstaaten. Bernardini arbeitet im MH-Projekt unter anderem auf der Insel Lampedusa als Sozialarbeiterin. „Wir nehmen am Hafen diejenigen in Empfang, die von den Rettungsbooten auf dem offenen Meer aufgegriffen wurden, und bringen sie in die Unterkünfte“, sagte sie. Im Projekt, das maßgeblich von der Föderation der Evangelischen Kirchen in Italien unterstützt wird, sei ein Ziel die Bildung einer „interreligiösen Gemeinschaft“. Deshalb sei es wichtig bei der Aufnahme der Migrantinnen und Migranten auch die Arbeit der lokalen ‚Community’ zu stärken. Insbesondere für ein ökumenisches Projekt warb sie. ‚Humanitäre Korridore‘ ermöglichen besonders schutzbedürftigen Personen die legale und sichere Einreise nach Italien aus den Krisengebieten im Nahen Osten und in Afrika. „Sie kommen mit dem Flugzeug, mit ihrem Gepäck und bringen ihre Vorgeschichte mit“, erläuterte Bernardini. 

 

„Mich beeindruckt das Engagement Ihrer Kirche“, sagte Ulrike Scherf und forderte dazu auf, Italien und die Kirchen dort in ihrem Bemühen um Hilfe nicht allein zu lassen. „Es ist unser gemeinsamer Auftrag als protestantische Kirchen, Not zu lindern, Ungerechtigkeit zu benennen und für Menschlichkeit einzutreten“, sagte sie.

 

Waldenserkolonie im Odenwald

Ein hessischer Landgraf, seine vier Landsknechte, ein niederländischer Gesandter und weitere Akteure in historischen Kostümen wirkten mit beim szenischen Spiel auf der Bühne des Marktplatzes. Das Stück zeigte, wie es 1699 zur Ansiedlung der 48 Waldenserfamilien in Rohrbach, Wembach und Hahn kam. Sie waren aus dem Pragelatal, das zum Herzogtum Savoyen gehörte, wegen ihres Glaubens vertrieben worden, zunächst über die Berge nach Genf geflüchtet und später in einigen deutschen Fürstentümern aufgenommen worden. Die mittellosen Flüchtlinge bekamen von Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt zwar Höfe und Land im Odenwald zur Pacht und gewisse Privilegien wie die freie Religionsausübung, französische Sprache in Kirche und Schule, kommunale Selbstverwaltung und niedere Gerichtsbarkeit zugestanden. Aber dafür waren die Pachtbedingungen hart für die Kolonisten. Das zeigte die Szene, in der Landgraf Ernst-Ludwig mit dem niederländischen Sonderbeauftragten Pieter Valkenier Garantien aushandelte und eine hohe Geldsumme forderte, die Glaubensgeschwister aus England und den Niederlanden aufbringen sollten. Viel Applaus gab es von den Zuschauern für das von André Lautenschläger geschriebene Stück. 

Klaus-Peter Schellhaas, Landrat des Kreises Darmstadt-Dieburg, hat sieben Jahre in Rohrbach gelebt und sagte in seinem Grußwort, diese Zeit sei nicht nur für die Tochter prägend gewesen, sondern auch für seine persönliche Auseinandersetzung mit dem Glauben. Der Bürgermeister von Ober-Ramstadt Werner Schuchmann hat vor zwei Jahren Pragelato besucht. Besonders beeindruckt habe ihn die alte Höhlenkirche in der Umgebung des Ortes. Dort sei das Grundmotiv der waldensischen Bewegung ‚Lux lucet in tenebris‘ (Das Licht scheint in der Finsternis) deutlich zu spüren gewesen. Er frage sich „Wären wir bereit gewesen, alles aufzugeben für den Glauben?“

 

Frauen predigen bereits im Mittelalter 

Die Geschichte der Frauen in der Waldenserkirche beleuchtete der Kirchenhistoriker Dr. Albert de Lange (Zwolle, Niederlande) in seinem Vortrag. Petrus Valdes (der frühere Kaufmann hatte im 12. Jahrhundert in Lyon die Gemeinschaft gegründet) habe auch Frauen aufgefordert öffentlich zu predigen – selbst in Kirchen, das gehe aus Berichten von Zeitzeugen hervor. Die Wanderprediger der Waldenser, Männer wie Frauen, verzichteten auf persönlichen Besitz und lebten zölibatär. Das habe sich Mitte des 16. Jahrhunderts geändert, als verheiratete Pfarrer das Evangelium verkündeten und Frauen dieses Amt versagt blieb, erläuterte de Lange. „Im 19. Jahrhundert unterrichteten Frauen an den kleinen Schulen der Waldenser in Italien“, sagte Elisabeth Löh Manna, die den zweiten Teil des Vortrags bestritt. Die überwiegend katholische Bevölkerung in Italien sei zwar fasziniert von den demokratischen, protestantischen Kirchen, in denen Frauen heute gleichberechtigt und als Pfarrerin tätig sind, lehne das aber für ihre Konfession ab. Die Föderation der Evangelischen Frauen in Italien habe ein wichtiges Projekt initiiert, das Gewalt an Frauen und Frauenmorde bekämpfen soll. Ein Platz wird in öffentlichen Veranstaltungen freigelassen und der Stuhl mit einem roten Tuch umkleidet, das soll zeigen: „dieser Platz ist frei, weil wieder eine Frau getötet wurde“, so Löh Manna, die aus dem niederrheinischen Moers stammt. 

 

Im Abschlussgottesdienst mit waldensischem Abendmahl, den Pfarrer Christoph Lubotta, Dekan Arno Allmann, Pfarrer Diethard Mertens und Carola Lautenschläger sowie ein Musikerduo mitgestaltet haben, bezeichnete Pfarrerin Elisabeth Löh Manna die Waldenser  als „Vorreiter im Herzstück der Reformation – im Glauben“. 

 

Doppeljubiläum ‚725 Jahre Rohrbach‘ und ‚250 Jahre Kirche Rohrbach“

Das Festwochenende begann am Samstag, an dem zwei Jubiläen gefeiert wurden: Rohrbach besteht seit 725 Jahren und die Kirche wurde 250 Jahre alt. Zum Auftakt gab es einen Festgottesdienst mit Pröpstin Karin Held.  Anschließend traten bis spät am Abend auf der Marktplatzbühne verschiedene Tanz- und Musikgruppen auf, ein Vortrag zur Geschichte, sowie Aktionen für Kinder ergänzten das breitgefächerte Programm. Ein Höhepunkt war das große Fotoshooting, zu dem sich am frühen Abend die Bewohner des Dorfes unter dem Motto „Wir sind Rohrbach“ auf dem Marktplatz versammelten. Veranstalter des Programms am Samstag waren die Stadt Ober-Ramstadt, der Ortsbeirat Rohrbach, die Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde Waldenser-Kolonie Rohrbach-Wembach-Hahn und die Rohrbacher Vereine.

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